35 Jahre Verliertnix – weltberühmt in Marburg
„Fußball ist kein Menschenrecht, aber ein Grundnahrungsmittel.“
(Marcel Reif, Fußballreporter)
Nicht immer wird Fußball gespielt. Selbst in Zeiten, da jedes Qualifikationsspiel des finnischen Supercups live übertragen wird, gibt es Augenblicke erschreckender Leere. Gleichzeitig nimmt aufgrund der Medialisierung auch des Fußballs und dem damit verbundenen Zwang zur permanenten Sensation die Halbwertzeit fußballerischer Ereignisse in einem rasanten Tempo ab. Zwei gute Gründe, um an das 35jährige Bestehen der „Fußballgemeinschaft Verliertnix Marburg von 1975“ zu erinnern.
Wer leidenschaftlich für eine Sache entflammt ist, kennt diese Situation: Erklären zu müssen, was daran denn wohl so faszinierend sein soll – und das nach 35 Jahren. Es ist egal, ob die „Sache“ nun John Wayne ist, Bilder von Vermeer, Bob Dylan, Gurkensalat mit Schafskäse oder ein Budweiser. Wenn man erst einmal erklären kann, warum etwas großartig ist, hat man bereits damit begonnen, es zu entzaubern.
Genauso verhält es sich mit dem Fußball: Die leidenschaftliche Zuneigung für das Fußballspielen im Allgemeinen und Verliertnix im Besonderen lässt sich nicht in Worte fassen. Alle Versuche kluger Köpfe, das Geheimnis der Faszination eines simplen, runden Balles zu ergründen führen möglicherweise auf Antworten, aber nicht auf das wahre Geheimnis des Fußballspielens bei Verliertnix. Weder soziologische Strukturmodelle („Die Ambivalenz der Doppelsechs“) noch philosophische Ansätze („Das Prinzip Hoffnung ist rund.“) können unsere bedingungslose Begeisterung für die Verliertnix-Fußballwelt erklären. Das kann und will auch dieses Bändchen nicht leisten. Es versteht sich in weiten Teilen als Lesebuch der anderen Art und nicht als Chronik. Wir erheben nicht den Anspruch, alle Daten und Ereignisse vollständig und angemessen zu erfassen. Deshalb wollen wir auch nur andeuten, darstellen und erzählen, um so Männer, Mannschaften und Momente ins Gedächtnis zu rufen. Es bleibt dann die Aufgabe jedes Lesers, das Buch im eigenen Kopfkino zu aktualisieren und vielleicht so in die wunderbare Welt des Verliertnix-Fußballs zu finden.
Mit zwei Überlegungen möchte ich abschließend eine Antwort auf die Frage, warum Fußball (m)eine Passion ist, versuchen. Nur echte Verliertnixer – und damit meine ich nicht die gegelten Hobbykicker, die drei- bis viermal im Jahr ihre Tennisschuhe bei Wohltätigkeits- oder Juxveranstaltungen ruinieren – werden mich verstehen. Denn sie wissen, was für ein Triumph es sein kann, mit dem eigenen Team in einem nervenaufreibenden und kräftezehrenden Match in der Nachspielzeit ein Unentschieden zu erkämpfenden, in strömendem Regen, vor einer Handvoll Zuschauern. Um hinterher vom Platz zu wackeln, mit übersäuerten Muskeln und einer nässenden Hautabschürfung am Knie, an der eine Woche lang die Jeans kleben bleiben wird – aber glücklich. Ich meine wirklich glücklich. Für eine halbe Stunde vielleicht oder noch weniger, für einen geglückten Augenblick lang. Aber dieses Gefühl kann mir niemand nehmen.
„Fußballspielen heißt“, so schreibt Klaus Theweleit in seinem lesenswerten Buch Tor zur Welt, „Weltanschluss. Die Schnittstelle zwischen Ich und Welt: der Ball.“ Der Fußball als Mittler und Medium, unmittelbar erfahrbar beim aktiven Spielen und beim Zuschauen. Vielleicht liegt gerade in dieser Unkompliziertheit das, was in einer immer komplexer werdenden Welt besonders fasziniert: Fußball ist herrlich einfach und deshalb einfach herrlich. Und dass er so gespielt und wahrgenommen wird, muss an denen liegen, die regelmäßig gemeinsam mit dem Fußball bei Verliertnix das Tor zur Welt aufstoßen. Der Fußball, das sind die Menschen. Und so ist dieses Buch letztendlich eine Hommage an all diejenigen, die in den letzten 35 Jahren mit Verliertnix weltberühmt in Marburg geworden sind.
Dr. Markus Meik, Arnsberg, August 2010